R153 up!
Erhebt euch, ihr habt nichts zu verlieren außer euren Stacheldrahtzäunen!
Der technologisierte Kapitalismus des 21. Jahrhunderts erweitert und stabilisiert den durch die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts geprägten Kapitalismus. Fords und Taylors Errungenschaften um die Präszisierung der Arbeit und Einschränkung der Autonomie der Arbeiter*innen werden durch neue Technologien wiederum revolutioniert. Automatisierte Maschinen und künstliche Intelligenzen sollen Großteile von Arbeitsprozessen vorallem in der Produktion, dem Finanz- und Logistiksektor übernehmen oder haben dies bereits getan. Der Mensch wird ausschließlich zur Programmierung, Entwicklung und Wartung dieser dienen oder erledigt stupide Assistenzaufgaben. Die eigentlich verwertbare “Arbeit” die Menschen in Zukunft angehen sollen ist das Füttern des kybernetischen-kapitalistischen Systems mit verwertbaren Handlungen. Der Mensch wird zum Produkt, dessen Wert sich anhand der Fähigkeit der systemischen Integration misst. Soll heißen: umso mehr verwertbare Daten - Feedback - eingespeist, umso mehr vom System erwünschte Handlungen ausgeführt werden, umso wertvoller ist das kleine Rädchen im System. Die täglich generierten Inhalte und Verbindungen werden analysiert und in Beziehung gesetzt um daraus Handlungsspielräume zu entwickeln, die für die Vermarktung nützlich sind. So liefern die alltäglichen Sensoren, wie Smartphones, Facebook, Instagram, Twitter, Chats, Amazoneinkäufe, Suchanfragen bei Google, Onlinebanking usw., beständig Daten - egal ob die Informationen aus unserer Sicht “sinnvoll” oder nicht sinnvoll sind. Den Systemen hinter den Sensoren ist egal was im Detail in einer Email steht, interessant ist das »wer, wo, wann und wie«. Die täglichen Verbindungen zwischen allen “Produkten” (Identitäten) zeichnen ein Netzwerk unserer Handlungen und damit unserer Realität nach, dieses gilt es im Sinne des Wertschöpfungsprozesses für den Markt zu beeinflussen. Die Systeme imitieren das Verhalten und assimilieren dieses Netzwerk durch polarisierende Nachrichten/Werbungen, zugeschnittenen Sucherergebnissen oder anderen Techniken zur Beeinflussung. Dadurch werden künstliche Rahmen um unsere Realitäten gelegt, welche uns in die richtige Richtung - das “richtige” Verhalten”, also verwertbaren Handlungen - führen sollen. Die gesellschaftliche Anwendung von Whatsapp, Selfie(stick)s und anderen technologischen “Trends” machen dies klar: Zwanghaftes Verhalten entwickelt sich, um das Dauersenden aufrecht zu erhalten - Whatsappgruppen für Familie, Freunde, Arbeit - Instagram-Stories für jeden Bereich seines Lebens und jede noch so kleine Filterblase - es kann nicht zu genug davon geben!
Wir sind die Ware, nicht die Kunden!
Die Zeiten der orwellschen “Big Brother” Metapher sind vorbei. Neben der militärischen und behördlichen Anwendung des Internets und damit vernetzter Technologien zur Überwachung und Kontrolle haben kapitalistische Unternehmen längst gleichgroße Brüder und Schwerstern aufgezogen. Die kommerzielle Überwachung sucht nicht nach der “Nadel im Heuhaufen” wie es die NSA im “Kampf gegen den Terrorismus” sagt zu tun, sondern braucht tatsächlich alle möglichen Informationen von Allem an sich. Und so sammeln Konzerne Unmengen personalisierter Daten und werten diese aus, um ihre Vermarktungsstragien in Echtzeit anpassen zu können.
Die allgegenwärtige staatliche Überwachung ließ sich zuletzt in der Metapher des Panoptikum finden. Ein “Ordnungsprinzip” westlicher Gesellschaften. Doch heute gehen wir über Orwell und Foucault hinaus. Heute sind wir nicht mehr Teil eines großen panoptischen Systems, heute tragen wir alle unser eigenes kleines panoptisches System in uns herum. Immer bestrebt unser Leben weitestgehend zu optimieren und mit der Gesellschaft um uns herum abzugleichen. Seitdem auch die Wirtschaft ihre Sensoren immer weiter ausbaut und vernetzt, erlebt die Rolle des panoptischen Überwachers eine Transformation hin zu einer “flüchtigen Überwachung”. Dort, wo der Staat (bzw. das Panoptikum) war, der eine gewisse Verantwortung mit sich trug, ist nun auch der Markt. Und so flüchtig - schnelllebig, dynamisch - wie auch der Markt ist, ist auch dessen “Überwachung”. Überwacht der Staat widerrechtlich, kann der Staat zur Verantwortung gezogen werden. Ein Konzern kann sich seiner Verantwortlichkeit gegenüber den Konsument*Innen einfach entziehen. Er schaut kurz zu, nimmt was er braucht und geht wieder; Verwertet dich, ohne dass du eine Chance hast zu widersprechen.
Diese flüchtige Überwachung geht aber nicht nur von den Sensoren um uns herum aus, sondern auch von uns selbst - wir lieferen jederzeit Daten über uns, überwachen uns selbst, optimieren uns - wir passen uns an den Markt an, nicht der Markt an uns. Dabei kann jedes noch so sinnlose Detail unseres Tagesablaufes, in der Summe zu verwertbaren Informationen werden. Bevor wir wissen, was wir morgen kaufen wollen, erkennen die Sensoren unseren Zustand und stubsen (Stichwort: Nudging) uns in Richtung des Konsums. Nicht nur Google weiß von uns, ob wir schwanger sind - unsere Versicherung, unsere Arbeitgeber, Dr. Oetker und nicht zuletzt die Hersteller von Kinderspielsachen wissen es. Und so bekommen wir die Werbung, die auf uns zugeschnitten ist - auch in Form von Nachrichten (Stichwort: Sponsored Content). Und so wird die Zukunft aus dem heute erlebten, geteilten, gelikten Stück für Stück zusammengesetzt und morgen kaufen wir diese “Zukunft” über Amazon oder schauen sie bei Netflix.
Angriff und Verteidigung
Das soziale Leben wurde durch das Internet und all die technologischen Entwicklungen um den digitalen Raum erweitert. Während wir als emanzipatorische Linke täglich um den öffentlichen Raum kämpfen und größtenteils verlieren, werden wir nun auch auf diesen digitalen Ebenen eingeschränkt und attackiert. Und gerade um diesen neuen Raum mit all seinen Möglichkeiten müsste eigentlich auch die “klassische” Linke kämpfen. Wo bleibt die Solidarität für Whistleblowerinnen und Hackerinnen die im Dienste der Allgemeinheit Daten offenlegten und Infrastruktur angriffen? Wo bleiben die digitalen Sitzblockaden, Besetzungen und Sabotagen? Wo die Maschinenstürmer*innen?
Politik und Wirtschaft vergrößern täglich ihren Einfluss auf das Internet, versuchen ihre Werte und Rechte darauf auszudehnen und anzuwenden. Das Dauersenden der Nutzerinnen wird zur Pflicht und damit das Internet zum Werkzeug digitaler Herrschaft und Kontrolle. Gegen den “Cyberkapitalismus” und seine Institutionen müssen wir solidarische Netzwerke schaffen - gegen die technologische Realität von Ausbeutung, Zersetzung und Depression. Dem bevormundendem, autoritärem, patriachalem und rassistischem technologischem System haben wir ein autonomes, hierarchieloses, emanzipatorisches Netzwerk entgegen zu stellen, dessen “Systeme” wir alle gemeinsam und unsere “Sensoren” unsere Gefühle sind.
Es ist außerordentlich wichtig dass wir uns auf allen Ebenen mit Technologie in ihrer Gesamtheit beschäftigen, sie beobachten und beeinflussen. Es ist nicht nötig dabei technologischen Trends aufzusitzen und/oder einem technischen Enthusiasmus zu verfallen. Die Technologie, die ideologisierte Technik, wird nicht wegzudenken sein und immer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Einfluss besitzen. Also müssen wir lernen damit umzugehen, lernen wie wir uns schützen, wie wir angreifen, wie wir damit leben (können) ohne von dem System aufgefressen zu werden. Unsere Netzwerke müssen zwingend einen kommunikativen Anschluss an das Ganze haben - also auch an das Internet - natürlich ohne sich dabei der Technologie zu unterwerfen. Ohne diesen Anschluss haben wir keine Chance uns entsprechend zu vernetzen und viel wichtiger, auf das System einzuwirken. Denn Konzerne und Staaten haben einen strukturellen Vorsprung, ihre Netzwerke funktionieren erschreckend effizient und die (angehenden) Architekt*innen für unsere Zukunft werden gut bezahlt. Die einen träumen von der technologischen Singularität und wollen unsterblich, transhuman werden durch den Einsatz von Technologie. Die anderen träumen von der künstlichen Intelligenz die all unsere Lebensbereiche erfasst, Lebensprozesse optimiert und unsere Weltprobleme algorithmisch löst. Alle diese gängigen Zukunftsvisionen, stammen aus den von vorrangig weißen Kapitalisten dominierten Technologieclustern (Silicon Valley, Silicon Saxony, …) dieser Welt und handeln von Kontrolle. Das Heranzüchten von Ingenieuren und BWLern an deutschen Hochschulen, die die neue Zukunft im Namen der Konzerne gestalten sollen und das Geschrei nach Industrie 4.0, Arbeit 4.0, Mensch 3.0 wird zum staats- ja sogar systemtragenden Element. Eine zukünftige Gesellschaft will geplant und verwaltet werden ohne dabei viel Gesicht (Macht) zu verlieren. So wie bei jeder Revolution - ob digital oder nicht - die Herrschenden haben die Vorteile erkannt und leiten einen sanften Übergang ein und versuchen dabei möglichst wenig Kontrolle/Macht zu verlieren.
Freie Software, Darknets wie TOR/i2p und ihre “illegalen” Märkte sowie der Ansatz einer unabhängigen digitalen Währung zeigen eine Seite eines funktionierenden praktischen digitalen Anarchismus (Kryptoanarchismus). Wikileaks, Nazileaks und Hacktivismus sind Beispiele für eine andere Seite, eine offensivere. Sowohl die eine als auch die andere Seite, ob radikal oder nicht, ermächtigen sich der Technologie. Dieser Akt wird von den Herrschenden als Angriff gegen die Ordnung gesehen. Wo früher Interpol zur Zerschlagung der “anarchistischen Verschwörung” gegen die Monarchien1 gegründet und finanziert wurde, sind heute allehand Cyberabwehrzentren, Cyberwehren und private Cyberdetektive die mit den Großen zusammenarbeiten. Die harte Repression die auf widerständische Aktionen im digitalen System folgt, lässt sich an den Schicksalen Julian Assanges, Chelsea Mannings, Edward Snowdens, Jeremy Hammonds und vielen anderen festmachen über die kaum mehr gesprochen wird. Das harmlose Überfluten einer Website mit Anfragen, welches dem dauerhaften Drücken der F5-Taste gleichkommt, wurde für einige 16-Jährige des Anonymous Kollektives zum Verhängnis und das FBI verhängte ihnen ein paar Jahre Internetverbot. Kiddies, die sich Technik aneigneten und kleine politische Akte mit ihnen vollführten wurden genauso zu Staatsfeinden erklärt wie die, die Interna der NSA und anderer mieser Organisationen geleakt hatten. Diese harte Repression darauf zeigt welcher Macht wir uns eigentlich bedienen können und wie angreifbar das System doch eigentlich ist. Und in Zeiten von “Internet of Things” und SmartIrgendwas werden die Möglichkeiten der Sabotage sogar leichter und vielfältiger als noch vor einigen Jahren.
tl:dr
Wir müssen den Umgang mit Technik lernen und uns Technologien aneignen. Wir müssen unverwertbar werden für das System, Masken tragen und es mit eigenen Mitteln angreifen, schwächen und beeinflussen, bevor die Möglichkeit eines Richtungswechsels (wohin auch immer) völlig verschwunden ist. Die Möglichkeit grundlegender sozialer Veränderung wird durch die stetige Manifestierung der digitalen Herrschaft immer geringer werden, so wie auch die Orte an denen man noch unerfasst leben kann.
Also lassen wir uns auf die digitale Realität ein oder leugnen wir diese, wie auch vor den Snowden Enthüllungen den Überwachungsstaat? Vermehrte Angriffe auf digitale Infrastrukturen in letzter Zeit und angezündete Amazonlieferfahrzeuge im Rahmen der #makeamazonpay-Kampagne lassen hoffen.
Notes
Hintergrund für diesen Beitrag sind die Veröffentlichungen des Capulcu Kollektives, “Kybernetik und Revolte” von Tiqqun, Joseph Weizenbaums “Macht der Computer und Ohnmacht der Vernunft”, Zygmund Baumans/David Lyons Gespräche über “Flüchtige Überwachung” und media.ccc.de.
(1) Stichwort: “Propaganda der Tat” - anarchistische Anschläge auf Herrschende häuften sich seit der Industrialisierung und Industrielle sowie Kriminalbeamte halluzinierten sich eine Verschwörung von Anarchist*innen gegen die herrschende Ordnung der Monarchien im 19. & frühen 20. Jahrhundert her.