Tricked into being a good citizen

Aus "Disrupt!" Band 3 des Capulcu-Kollektives

Angriff auf unsere Autonomie

In der selbstoptimierenden Welt von morgen werden die Lösungen gesellschaftlicher Probleme durch ein »Anstupsen« der trägen entscheidungsunfreudigen Masse ausgelöst. So könnten an öffentlichen Toiletten Displays mit Zeitangaben angebracht werden. Ein Display am Toiletteneingang stellt die persönliche Zeit auf der Toilette dar, ein weiteres die Gesamtzeit des Toilettenaufenthalts von männlichen und weiblichen Besucherinnen. Eine grüne Zeitanzeige symbolisiert ein positives Pensum, eine rote Zeitanzeige ein negatives. Dadurch wird den Toilettenbenutzerinnen ihre verbrauchte Zeit klar gemacht und gleichzeitig treten sie unfreiwillig in Wettstreitzueinander. Es wird rot signalisiert, wenn der Toilettengang ein bestimmtes Zeitpensum überschritten hat – auch im Vergleich zum anderen Geschlecht. So könnte das ›Trödeln‹ auf der Toilette unterbunden bzw. der ›normale‹, gesellschaftlich genormte Toilettengang gefördert werden. Arbeitgeberinnen könnten erreichen, dass nicht zu viel Arbeitszeit auf der Toilette verbracht wird und auf öffentlichen Toiletten gäbe es keine Überfüllung mehr. Den Nutzerinnen der Toiletten würde in dem Fall ein ›unerwünschtes‹ Verhalten – das unnötige Zeitverbringen – abtrainiert, indem ihnen eine gewünschte Entscheidung visualisiert und nahegelegt wird. Zumindest wird ihnen die Entscheidung erschwert, selbst festzulegen, wie viel Zeit sie auf der Toilette verbringen. Die unfreiwillige Konkurrenz untereinander und das Vorführen der eigenen verbrauchten Zeit führt zu einer kollektiven Anpassung des Verhaltens. Das ist Nudging.

Einblick

Nugde/Nudging wird kurz als »Stups« oder »Anstubsen« übersetzt. Die weiterführende Beschreibung lautet »to push against gently, especially in order to gain attention or give a signal«, zu Deutsch etwa: »leichter Druck, um Aufmerksamkeit zu erzeugen oder ein Zeichen zu geben«. Der Begriff wurde 20081 in der Verhaltensökonomie eingeführt und beschreibt die vorhersagbare Beeinflussung von menschlichem Verhalten. Grundlage für die nicht unumstrittene Theorie ist die Annahme, dass Menschen einen sehr begrenzten bzw. keinen freien Willen besitzen und damit auch nur begrenzt fähig sind, rationale autonome Entscheidungen zu treffen. Die Nudging-Theorie ist für die Marktwirtschaft und den politischen Raum von außerordentlicher Wichtigkeit, weil mit ihrer Hilfe ausgemacht werden kann, wie menschliches Verhalten – besonders in der Entscheidungsfindung – beeinflussbar ist. Beeinflussbar für das ›Gute‹ natürlich. So soll die Gemeinschaft zu einer besseren, gesünderen gemacht werden, ohne dabei auf aufwendige Mittel zurückgreifen zu müssen. Jedes ›Individuum‹ der Gesellschaft trägt seinen kleinen Teil zum Ganzen bei und ›wirbt‹ mit seinem angepassten Verhalten gleichzeitig gegenüber anderen für das genormte Verhalten. Die Nugding-Theoretiker*innen stehen dabei für einen »libertären Paternalismus« ein. Frei und kurz übersetzt bedeutet das eine Herrschaft basierend auf freiheitlicher Bevormundung – ohne Gebote und Verbote. Das ›Freiheitliche‹ an dieser Bevormundung meint die Möglichkeit, dass der Mensch ja aus der Manipulation ausbrechen könnte – wenn er sie denn überhaupt bemerkt!

So werden die allgemeine Verblendung der Menschen und ihre Trägheit, Desinteresse, Fehlerhaftigkeit sowie Empathielosigkeit genutzt, um den ›schlechten‹ fremdbestimmten Menschen zu einem ›guten‹ fremdbestimmten Menschen zu erziehen. Für Wirtschaft und Politik ist das natürlich ein gefundenes Fressen – wer braucht schon Gesetze, Regulierungen und kostspielige Aufklärungskampagnen, wenn man auch mit weniger Aufwand auf die Bevölkerung einwirken kann? Und genau aus diesem Grund sprießen gerade in westlichen Nationen »Nudge Units«2, »Nudge-Networks« (ThinkTanks) und Nudging-Agenturen – die weiterentwickelte Werbeagentur – aus dem Boden, um sich für eine ›bessere Welt‹ einzusetzen.

Sunstein baute für Barack Obama eine Nudging-Einheit in den USA auf und Thaler für David Cameron in England. Das 2010 von der britischen Regierung gegründete »Behavioural Insights Team« wurde schon vier Jahre später privatisiert. Dadurch hat sich das BIT gezielt der demokratischen Kontrolle und dem »Freedom of Information Act« entzogen und kann für andere Regierungen, Länder oder Organisationen arbeiten. Auch in Deutschland will man Nudging nutzen, um politische Ziele unkonventionell zu erreichen. Die Projektgruppe »Wirksames Regieren« der Bundesregierung wurde 2015 ins Leben gerufen, hält sich bisher mit Kampagnen oder Ergebnissen aber bedeckt. Heiko Maas nannte die Gruppe in einem Interview ein »interessantes Instrument«. Lediglich Verbraucherschützer*innen warnen.

Die Nudging-Theoretiker*innen nehmen an, dass Entscheidungen nicht nur rational getroffen werden und Menschen nur bedingt sinnvolle Entscheidungen für sich und ihre Umwelt treffen. Ein Beispiel dafür sind Menschen, die ungesund essen, obwohl sie wissen, dass es ihnen schaden könnte. Das (systemische) Nudging soll dieses ›sinnlose‹ Verhalten zum Positiven hin beeinflussen. Es soll erwünschtes Verhalten erleichtern, erwünschtes Verhalten nahe legen oder unerwünschtes Verhalten erschweren.

Der Nudge besteht meistens aus dem sogenannten »Choices Framing« und den »Default-Regeln«. Diese geben in einem bestimmten Rahmen gewisse Entscheidungsmöglichkeiten vor. Durch die Vorgabe bestimmter Positionen bzw. Antwortmöglichkeiten (»Defaults«) kann das Ergebnis einer Fragestellung bzw. einer Entscheidung beeinflusst werden. So kann die Auswahl an Möglichkeiten so vorgegeben werden, dass der Eindruck entsteht, es würde sich um eine Entweder-oder-Entscheidung handeln. Oder gewisse Möglichkeiten wie die, keine Entscheidung zu treffen, werden nicht aufgezeigt. Menschen neigen dazu, vorgegebene Möglichkeiten zu wählen (laut der Theorie) – also braucht die träge Masse nur einen bestens abgestimmten Entscheidungsrahmen, um zum Konsum etc. angestupst zu werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Umgang mit der Organspende in der Schweiz. 98% der Schweizerinnen sind Organspenderinnen, weil ein explizites Opt-out-Verfahren notwendig ist, um nicht zu spenden.

Der eindrücklichste Nudge der Vergangenheit ist die »Pissoir-Fliege«. Schon vor mehr als zehn Jahren gab es auf den Herren-Toiletten im Amsterdamer Flughafen Schiphol aufgeklebte Fliegen an den Pissoirs, die dazu verleiten sollten, auf diese zu zielen, um den Reinigungsaufwand durchs Danebenpinkeln zu minimieren. Heute sieht man in vielen Diskotheken, Bars, Restaurants und öffentlichen Toiletten ähnliche Nudges. Egal ob Fliegen, Golflöcher, kleine Fußballtore oder Werbung im Pissoir – der Nudge funktioniert.

In Kalifornien wurde Einwohnerinnen ihr Stromverbrauch im Vergleich zu den Nachbarinnen angegeben, teils mit Energiespartipps. Zusätzlich wurden Nachbarinnen mit einem niedrigen Stromverbrauch mit einem Smiley markiert. So ließ sich der Stromverbrauch in den Sommermonaten durch Nudging tatsächlich drosseln. In England werden Steuerzahlerinnen mit Hilfe einer Zahlungsaufforderung und dem Beitext »Neun von zehn Briten zahlen ihre Steuern pünktlich, und in Ihrer Nachbarschaft haben die meisten schon bezahlt« zum pünktlichen Bezahlen genudged. In Australien werfen Autofahrer*innen ihre Getränkedosen entlang von Highways gerne aus dem Fenster, so dass sich dort sich der Müll stapelt. Die Stadtreinigung stellte kleine Tore auf und musste daraufhin nur noch an diesen Stellen den gezielt geworfenen Müll aufsammeln.

Auch im digitalen Raum wird massiv auf Nudging gesetzt. Sogenannte »Dark Patterns«3 verschleiern und verändern den Kontext so, dass ›schlechtes‹ Verhalten gefördert wird. So sind z.B. die Privatsphäre-Einstellungen von bekannten sozialen Netzwerken absichtlich unübersichtlich bis versteckt gestaltet, um die Benutzer*innen davon abzuhalten, Einschränkungen vorzunehmen. Auch das bekannte automatische Abonnieren von Newslettern ist ein bekanntes »Dark Pattern«. Mit Hilfe von BigData wird Nudging im Internet zu »BigNudging«, welches die Gefahr großangelegter Manipulation birgt, z.B. durch politische Propaganda im Vorfeld von Wahlen.

Ausblick

Wer im Markt nicht mithalten kann, weil On- & Offline-Tracking, BigData, personalisierte Echtzeitwerbebotschaften usw. nicht mehr ausreichen, um sich gegen Konkurrenz zu wehren, wird wohl auf Nudging setzen – so zumindest die Prognose von Ökonominnen. Ebenso wird die Politik vermehrt Nudging nutzen wollen, da ohne viel Aufwand Einfluss geübt werden kann, der nicht im typisch rechtsstaatlichen Anstrich daherkommt und von den Bürgerinnen eher angenommen wird als Regularien.

Nudging ist intransparent und oft nicht als solches erkennbar. Es stellt einen Angriff auf unsere Selbstbestimmung dar, entmündigt uns, baut Konformitätsdruck auf und bedeutet einen Verlust demokratischer Partizipation. Menschen, die auf Nudging ›hereinfallen‹, treffen Entscheidungen, die sie normalerweise vielleicht nicht treffen würden. Damit wird ihnen ein Stück Freiheit und Autonomie genommen.

Desweiteren besteht die Möglichkeit, dass der Entscheidungsrahmen keine alternativen Entscheidungen zulässt – Entscheidungen würden dann einem Zwang unterliegen. Gesellschaftliche Zwänge entstehen, wenn das Nudging langfristig und breit angelegt wird. Langfristig könnte es so weit getrieben werden, dass Möglichkeiten einer wirklich freien Entscheidung gehemmt oder gar komplett verbaut sind. Der aufklärerische Ansatz, aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit auszubrechen und wirklich freie, autonome Entscheidungen zu treffen, würde durch eine kollektive, gesteuerte Selbstoptimierung ersetzt. Dann hätten wir zwar zu Gunsten der Systemstabilität einen Schritt nach vorn getan, aber unsere Freiheit betreffend mindestens zwei zurück.

Was können wir tun? Das Ziel des Nudgings ist ein ähnliches wie das klassischer Werbung – nur arbeitet der Nudge wesentlich subtiler. Hat man das Prinzip hinter Werbung erkannt, erkennt man diese auch dann, wenn sie sich versteckt. Man kann sie leichter ausblenden bzw. ihr widerstehen. Wir sollten in Zeiten von »Fake News« und »Dark Patterns« stärker denn je Fragen stellen. Wie ist etwas aufgebaut? Welche Struktur hat es? Was will es? Wie erreicht es mich? Was wird benutzt, um mich zu triggern? Was oder wer steckt dahinter? Die Fragen zu beantworten, ist am Anfang vielleicht schwer, aber unser Gehirn ist bekanntlich ein Muskel. Irgendwann reagierst du nie wieder auf »2 für 1«-Angebote oder überflüssige Fragen in Formularen. Gesunde Skepsis und kindliches Hinterfragen können zu einem neuen Bewusstsein führen, welches uns weitgehend immun gegen Manipulationsversuche macht bzw. uns dabei hilft, diese schneller zu erkennen. In Zukunft werden wir immer zuverlässiger erkennen, wenn wir subtil zu Entscheidungen verleitet werden sollen.

Und so werden wir uns hoffentlich auch dagegen wehren, wenn Arbeitgeber*innen die Toilettenzeiten ihrer Angestellten auswerten wollen. Noch ist dieser konkrete Angriff auf unsere Autonomie zum Glück ein dystopischer Gedanke ...

Notes

(1)

Cass Sunstein, Richard H. Thaler »Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness« 2008; deutsche Veröffentlichung: »Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt« 2010

(2)

(3) Dark Pattern Hall Of Shame: old - new